Kulturprotestantismus (heute)

Eine kurze Erörterung des Begriffs (und seiner heutigen Bedeutung)

Von „Kulturprotestantismus“ wird heute nur noch in theologischen Fachkreisen gesprochen und dort auch nur im Rückblick auf eine Spezialrichtung des „Neuprotestantismus“ mit ihrem wissenschaftlichen Ausdruck in der liberalen Theologie. Wenn allerdings die Forderung Schleiermachers angesichts des konfessionellen Traditionalismus auch in der Post­moderne noch gilt, dass die Kirche die Aufgabe hätte, der Gefahr zu wehren, dass „der Gebildete dem Unglauben und der Christ der Barbarei“ verfällt, dann lohnt es sich zu überlegen, respektive zu diskutieren, ob nicht auch in unserer Zeit Kultur und Protestantismus eine kreative Beziehung zueinander aufnehmen sollten.

Der Begriff „Kulturprotestantismus“ bezeichnet eine wirkmächtige geistesgeschichtliche Strömung im Deutschland des 19. Jahrhunderts, deren Prota­gonisten ihr Hauptanliegen darin sahen, Kirche und zeitgenössische Kultur, Philosophie und Natur­wissenschaft miteinander zu verbinden (versöhnen). Struktureller Ausdruck war der „Deutsche Protest­antenverein (gegründet 1863), der sich die Erneuerung der Evangelischen Kirche im Geiste protestantischer Freiheit und im Einklang mit der Entwicklung von Kultur und Wissenschaft auf die Fahnen schrieb.

Wenn der deutsche Theologe Albrecht Ritschl (*1822) als Vater des Kulturprotestantismus gelten kann, so ist unstrittig Adolf von Harnack sein bedeutendster Vertreter (*1851). Konsequent fasste letzterer nicht nur seine theologischen Erkenntnisse in Vorlesungen über „das Wesen des Christentums“ (Ludwig Feuerbach aufnehmend) zusammen (um 1900), sondern trat auch als Wissen­schafts­organisator (1. Präsident der heutigen Max-Planck-Gesellschaft) und politisch engagierter Bürger (Politikberater des Reichskanzlers) auf. Dies alles aus religiöser Verantwortung für die „evolutionäre Gesellschaft der Neuzeit“. Dabei ging es ihm jederzeit um die Vermittlung „religiöser Inhalte und erkennbare Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde. Richtig und nicht hoch genug zu schätzen ist daneben, dass er liberale Grundeinstellungen vertrat und die „Achtung der Würde des einzelnen Menschen“ propagierte.

Mit der Zerschlagung der bürgerlichen Werte und Kulturvorstellungen im 1. Weltkrieg verlor der Kulturprotestantismus seine gesellschaftliche Grundlage im Bildungsbürgertum. Karl Barth erklärte den Kulturprotestantismus für „theologisch bankrott“ und Dietrich Bonhoeffer postulierte die Notwendigkeit eines „religionslosen Christentums“.

Nur der Theologe und Philosoph Paul Tillich (*1886), der bereits 1933 aus Nazideutschland in die USA fliehen musste, weil er jüdische Studenten vor ihren faschistischen Kommilitonen in Schutz nahem, hielt bis zu seinem Lebensende die Fahne des Kulturprotestantismus hoch. Er kritisierte gerade Karl Barth, der in seiner kirchlichen Dogmatik von der Unfehlbarkeit des Papstes nur bis zu „Unfehlbarkeit des Buches“ gekommen sei und mit der „Wort-Gottes-Theologie die zeitbedingte Ausdruckweise des 1. oder 16. Jahrhunderts kritiklos in die Gegenwart“ übernehme, anstatt „die religiösen Traditionen des Christentums mit dem kulturellen Leben der Gegenwart“ zu vermitteln. Die „Kirchensprache von Sünde, Erlösung und Reich Gottes“ würde das „religiöse Erleben als Beziehung zwischen Gott und Mensch“ unmöglich machen und er beklagte die Predigthörer, denn „wie Steine wirft man ihnen solche Worte an den Kopf“.

Tillich starb 1965 in Chicago, der heutige Gottesdienstbesucher mag die eben zitierten Sätze allerdings als hochaktuell erfahren. Geblieben von den „kultur-, sprach- und stilbildenden „Wirkungen des Protestantismus“ ist also mindestens die Aufgabe, Gottes überliefertes Wort wieder neu und dem allgemein gebildeten Menschen verständlich in unsere Zeit hinein zu sprechen.