Ein Chor ersingt sich einen Raum

Die Domkantorei Berlin — eine klangvolle Gemeinschaft

Zuerst dachte ich, in diesem riesigen Saal müsse sich jeder Chor schon rein optisch verlieren und Gottes Wort — wenn auch glaubhaft vertont und einfühlsam interpretiert von Bach und Hildebrandt — vor Glanz und Gloria des Innenraumes verstummen. Desto größer war meine Überraschung, als die Frauen un Männer der Domkantorei den Altarraum einnahmen und mit ihrer Lebendigleit goldenen Zierat und todernste Sand­stein­säulen verdeckten und vergessen ließen. Von Liedstrophe zu Liedstrophe, von Gebetsruf zu vertontem Evangelium sangen sie die Enttäuschung des kritischen Gottesdienstbesuchers über die dürftige Akustik hinweg. Spätestens nach dem ersten Klängen der Bachkantate war auch mein Vorurteil verloren­gegangen, im Berliner Dom könne man mit gutem Gewissen keinen Gottesdienst halten.

Daß die Kantategottesdienste das schönste an der Chorarbeit seien, meinen viele der Sängerinnen und Sänger. Aber die eigentlichen Höhepunkte sind natürlich die Oratorien, wenn — wie im Weihnachtsoratorium — nicht 80, sonder 180 Stimmen erklingen und damit selbst im Dom die Vocalmusik dominiert. Ausgesprochen diffizile Chorwerke lassen sich hier allerdings nicht zu Gehör bringen. Deshalb fand zum Beispiel die Aufführung der Johannes­passion von Bach in diesem Jahr auch in der neu gestalteten Kirche „Zum heiligen Kreuz“ in Kreuzberg statt.

Neben der Mitgestaltung von ca. 30 Gottesdiensten führt die Domkantorei jedes Jahr unter anderem fünf Oratorien auf und zwanzig A-cappella-Konzerte. Dazu kommen Kranken­haus­singen und besondere Auftritte, jeden Montag Probe und häufig auch freitags und samstags. Ein Profi-Chor? — Weit gefehlt. Alles geschieht ehrenamtlich und mit hohe, Einsatz der Beteiligeten. Aber die Qualität rechtfertigt das Engagement: Die Kantorei genügt mit ihren ausgewogenen Stimmgruppen und ihrem Klangbild hohen Ansprüchen. Ein Stück, das den Sängerinnen und Sängern zu schwer ist, findet sich kaum. Den musikalischen Ausdruck aber prägt natürlich der Kanto.

Herbert Hildebrandt begann 1961 direkt nach dme Mauerbau mit den ersten Proben — eine leise, aber entschiedene Antwort auf die unmenschliche Teilung der Stadt. Der Chor war für viele eine ideologiefreie Oase mitten in der sozialistischen Hauptstadt, in der nicht nur die Stimme, sondern ebenso die Gemein­schaft gepflegt wurde. Bis heute gehören zur Chorarbeit auch die Feiern und Familien­freizeiten.

Aber, nicht immer geht alles glatt. Nach manchen überstanden Repressalien zu DDR-Zeiten mußte der Chor auch noch nach 1990 um seine Existenz kämpfen. Die Domkantorei gehört nämlich nicht dem Dom, sondern ist ein freier Verein, der sich selbst organiseren und finanzieren muß. Und wenn man weiß, daß das Podest des Weihnachts­oratoriums und die Miete für den Dom allein 20,000 DM kosten, lässt sich leicht ausrechnen, daß mit den Auftritten keine großen Gewinne zu machen sind. Immerhin unterstützen mehr als 3009 Hörerinnen und Hörer sowie 300 Vereinsmitglieder die Kantorei, manche sogar durch regelmäßige Spenden. Ich jedenfalls wünsche mir sehr, daß die Domkantorei eine gesicherte Perspektive hat, denn für den 1. Mai ist die Aufführung der Sinfoniekantate „Lobgesang“ von Felix Mendelssohn Bartholdy geplant, und spätestens dann möchte ich wieder in den Dom gehen.