Wir sind es gewohnt, mitzudenken
Die Naumburger Biermann-Protest-Bewegung
Die Verfolgung von Biermann und Havemann und ihren Anhängern in der DDR war eine indirekte Folge der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975. Die Geheimpolizeien des Ostblocks wollten Helsinki-Gruppen im Ansatz ersticken. SED und Stasi befürchteten offenbar, dass aus dem Netzwerk der beiden Prominenten DDR-Dissidenten solche Gruppen entstehen könnten und schlugen überall im Land rücksichtslos zu.
Mit der Überschrift „Wir sind es gewohnt, mitzudenken“ dokumentierte das „Neue Deutschland“ am 20. November 1976 zum wiederholten Mal, dass es des Deutschen nicht mächtig ist. Auch die Creme unserer „Künstler und Kulturschaffenden“ blamierte sich in ihren Stellungnahmen, die sie nach Biermanns Ausbürgerung schrieb, bis auf den Grund. Die Naumburger Menschenrechtsgruppe hingegen hatte seit 1975 gelernt, mitzudenken und selbstbestimmt zu handeln. Hier ihr Bericht:
Schon kurz nach dem 18. September 1976 hatten wir Studenten uns Biermanns Bericht über seinen Auftritt in der Prenzlauer Nikolaikirche besorgt, abgeschrieben und vervielfältigt. Das war uns besonders wichtig, weil der Liedermacher sich hier erstmals öffentlich über sein Verhältnis zum christlichen Glauben äußerte und auch den Bezug zur Selbstverbrennung von Oskar Brüsewitz herstellte. Und natürlich brachten wir umgehend einen Brief in die Chausseestraße 1, in dem wir Biermann baten, sobald als möglich auch auf der „Insel der Heiligen“ 2 zu singen.
Danach überschlugen sich die Ereignisse: Die Ausbürgerung von Wolf Biermann am 16. November 1976 löste den bekannten Proteststurm aus, auf den – wie oben schon erwähnt – die Kulturschaffenden entsprechend zu reagieren hatten. Die ersten Verhaftungen in Berlin folgten prompt und blieben auch nicht verborgen. Was sollten wir in unserem Provinzstädtchen tun als zu dokumentieren, was wir über unsere Kirchenkanäle und Nonkonformistenkontakte erfuhren und diese Informationen wiederum Samisdat-erfahren 3 unter die Leute zu bringen, denn in den Publikationsorganen der DDR wurde wie schon bei Brüsewitz gelogen, was das Zeug hielt. Zum Jahreswechsel 1976/77 war denn auch die (nach der über Brüsewitz) nächste Dokumentation fertig: „Die Ausweisung von Wolf Biermann und ihre Folgen – Ein Bericht von Bier-, Staats- und Hampelmännern“.
Der Bericht war wieder von Günther Schau geschrieben worden. Er war auch sonst der Umtriebigste von uns, knüpfte Kontakte zu den Charta 77-Verfassern und fuhr am 16. März 1977 zur Beerdigung von Jan Patočka nach Prag, um in unser aller Namen Blumen auf das Grab zu legen.4 Die Grenzorgane waren wohl zu verschärften Kontrollen angehalten worden, denn man holte den Langhaarigen aus dem Zug, ließ ihn allerdings nach einer ergebnislosen Befragung wieder laufen. Nun hatte ihn die Stasi persönlich auf dem Kieker und insofern konnte man es nicht Zufall nennen, dass er am 30. März 1977 während einer Reise zur Haftanstalt Untermaßfeld, wo unseren Informationen nach Politische einsaßen, festgenommen wurde. Durch seine Mutter erfuhren wir, dass die Stasi ihn nach Berlin/Hohenschönhausen verfrachtet hatte, wo Jürgen Fuchs, Christian Kunert und Gerulf Pannach bereits auf ihre Verfahren warteten.5
Da wir übrigen Naumburger/-innen mit weiteren Aktivitäten der Staatsorgane rechnen mussten, waren wir nicht faul und erweiterten unsere Aufzeichnungen zu einer „Brüsewitz-Biermann-Dokumentation“, die nun auch Schau und viele andere, weniger bekannte Protestierer einbezog. Christian Radeke und ich übernahmen die Verantwortung für das Papier — in der zwiespältigen Hoffnung, dass es im Ernstfall dann nur uns beide erwischen würde.
Die Stasi war allerdings auch nicht faul und fing an zu ermitteln: Zuerst zur Vergangenheit der Einzelpersonen, aus denen sich unsere kleine Menschenrechtsgruppe zusammensetzte, dann zu ihren gegenwärtigen Aktivitäten. So entdeckte sie unsere Sympathie für den „Störenfried“ aus Zeitz 6 und enttarnte, dass ich Havemann 7 am 22. Juli 1977 eine „Dokumentation über die Ereignisse des letzten dreiviertel Jahres in der DDR“ übergab.8 Sie stellte fest, dass diese Dokumentation in mehreren Exemplaren existierte und wir in diesem Zusammenhang Verbindungen zum „Schutzkomitee für Freiheit und Sozialismus“ in Westberlin 9 aufgenommen hatten. Außerdem hatte Horch und Guck inzwischen herausgefunden, dass wir uns bei der Formulierung und Verbreitung eines der Charta 77 nachempfundenen Appells an unsere Landsleute beteiligt hatten, des Querfurter Papiers „Friede und Gerechtigkeit heute“ vom 29. April 1977 10 und zu allem Überfluss dafür noch Unterschriften sammelten.
Das reichte für einen Vermerk Mittigs 11: Am 1. September 1977 legte er Mielke einen „Vorschlag für eine zeugenschaftliche Vernehmung des Radeke, Christian, des Tautz, Lothar (beide sind Student am Katechetischen Oberseminar Naumburg) und der Lintzel, Martina (Apothekenfacharbeiterin in der Adler-Apotheke Naumburg)“ auf den Schreibtisch. Wir sollten einen „Schwerpunkt“ darstellen „in der operativen Bearbeitung der Verbindungspersonen des SCHAU sowie bei der Weiterführung der von ihm begonnenen staatsfeindlichen Aktivitäten gem. § 106 (1) 1“ 12 (auf solche „Aktivitäten“ gab es Freiheitsstrafen von einem bis zu fünf Jahren!). Der Vorschlag wurde von Stasichef Mielke per Unterschrift höchstselbst bestätigt.
Wir sahen die daraus folgende Vorladung – für mich heute erstaunlich – gelassen, hatte sich doch Bischof Werner Krusche mit einem Brief vom 6. September zu uns bekannt, obwohl unsere Studieninspektorin mit Christian und mir gerade ein ernsthaftes Gespräch „wegen ... schlechter Studiendisziplin, Desinteresse am Theologiestudium und mangelnder Leistungen...“ geführt hatte. Außerdem erhielten „radeck tautz hamel“ am 8. September 1977 ein Telegramm aus Westberlin: „nach uasbergerung bei den alten freunden gruss aljoscha“: 13 Bei dem Wort „Ausbürgerung“ versagte augenscheinlich sogar das Telegrafenamt.
Am 16. September 10:00 Uhr hatten wir im Kreisgericht Naumburg zu erscheinen. Angesichts des möglichen Strafmaßes war für uns allerdings nicht beruhigend, „von der amtierenden Kreisstaatsanwältin auf die Rechtsgrundlagen dieser Maßnahme hingewiesen“ zu werden. Wir kannten die „Plankonzeption (der Stasi) für die Befragungen“ 14 nicht, aber wir hatten uns selbst eine gemacht (die „den Eindruck erweckten, dass vorher eine Abstimmung zwischen ihnen erfolgte“). Die funktionierte, denn "Insgesamt konnte kein strafrechtlich belastendes Material erarbeitet werden“.15 Dumm war nur, dass damit „Voraussetzungen geschaffen wurden, weitere Zersetzungsmaßnahmen durchzuführen“.16 So kam ich im November zur OPK HA XX/4 17, ohne zu wissen, dass es so etwas überhaupt gibt.
Als Anlage kann auch ein Gespräch mit Lothar Tautz zum Thema „Naumburger Biermann-Protest-Bewegung“ während des letzten Halle-Forums (September 2022 in Halle, Roter Ochse) auf YouTube gesehen werden.
1: Wolf Biermann (*1936) wohnte in Ostberlin in der Chausseestraße. Er wurde drei Tage nach seinem Kölner Konzert vom 13. November 1976 aus der DDR ausgebürgert.
2: So nannten die Studenten das Katechetische Oberseminar in Naumburg.
3: Samisdat ist aus dem Russischen entlehnt; es bedeutet Selbstverlag. Die sowjetischen Dissidenten verbreiteten so unzensierte Informationen und Literatur.
4: Jan Patočka (1907-1977), Philosoph und Co-Sprecher der tschechoslowakischen Bürgerrechtsgruppe Charta 77, hatte am 3. März 1977 nach elfstündigem Verhör einen Schlaganfall erlitten, an dessen Folgen er zehn Tage später starb.
5: Der Psychologe und Schriftsteller Jürgen Fuchs (1950–1999) und die Musiker Christian Kunert (*1952) und Gerulf Pannach (1948–1998) hatten gegen die Ausbürgerung Biermanns protestiert.
6: Pfarrer Oskar Brüsewitz (1929–1976) hatte sich im August 1976 auf dem Marktplatz in Zeitz aus Protest gegen die kommunistische Kirchenpolitik gegenüber Kindern und Jugendlichen öffentlich selbst verbrannt.
7: Der Kommunist und Widerstandskämpfer Robert Havemann (1910-1982), Chemieprofessor und Mitglied der Akademie der Wissenschaften, wurde 1965 in der DDR mit Berufsverbot belegt und am 26. November 1976 wegen seines Protestes gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann zu Hausarrest verurteilt.
8: vgl. BArch MfS ZA AU 9272/78 BStU S. 59f
9: Das Schutzkomitee gründete sich im Dezember 1976 in Westberlin, um Inhaftierte wie Jürgen Fuchs und seine Freunde zu unterstützen.
10: vgl. LStU Sachsen-Anhalt, Sachbeiträge 22
11: BArch MfS ZA AU 9272/78 BStU S. 76-78; Rudi Mittig war stellvertretender Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke Minister für Staatssicherheit.
12: Staatsfeindliche Hetze
13: Aljoscha wird Günther Schau seit seiner Schulzeit genannt. Er wurde aus der Haft nach Westberlin abgeschoben.
14: BArch MfS ZA AU 9272/78, BStU S. 92
15: BArch MfS ZA AU 9272/78, BStU S. 86
16: ebenda
17: Die Hauptabteilung XX des Staatssicherheitsdienstes, zuständig für „Staatsapparat, Kultur, Kirchen und Untergrund“, bildete den Kernbereich der politischen Repression. Abteilung 4 war für den kirchlichen Bereich zuständig. OPK bedeutet Operative Personenkontrolle.