August 1975: Pogromstimmung in Erfurt
Eine persönliche Erinnerung von Lothar Tautz
Dieser Aufsatz steht ergänzend zu der in der Zeitschrift „Gerbergasse“ Heft 89 und im MDR veröffentlichten historischen Darstellung über die Hetzjagd gegen algerische Gastarbeiter in Erfurt.
Im August 1975 war ich oft in Erfurt, denn ich hatte Semesterferien und – wie schön – eine neue Wohnung für mich ganz allein auf der „Langen Brücke“ nahe am Domplatz. Am 10. August kam ich spätabends aus meiner alten Wohnung in der Brühlerstrasse, ich hatte mit meinen Nachmietern mehrere Gläser Wein geleert. Um in mein neues Domizil zu gelangen, musste ich über den Domplatz, wo zum Sommerfest einige Karussells aufgebaut waren. Der „Rummel“ war noch im Gange, weshalb es ziemlich laut zu ging.
Als ich an der Straßenbahnhaltestelle vorbeikam, sah ich, dass mal wieder eine Prügelei im Gange war. Das kam unter den ‘normalen’ Erfurter Jugendlichen regelmäßig vor und ich hielt mich da immer raus, denn meist war bei den Kontrahenten viel Alkohol im Spiel und die Auseinandersetzung hatte weder Sinn noch Verstand. Sollen sie sich doch die Köpfe gegenseitig einschlagen…
Vor allem war ich aber dank langer Haare samt Bart als Hippie erkennbar, was sehr schnell dazu führen konnte, dass die Schlägerbande ganz schnell ihren Zwist vergaß und gemeinsam auf den „Gammler“ losging. Alles schon erlebt.
Ich griff dennoch ein, denn ich Licht der Straßenlaterne sah ich, dass vier oder fünf Kurzhaarfrisuren auf einen Typen einprügelten, der ziemlich genau so aussah wie Jimi Hendrix, also ein Seelenverwandter von mir. Ich war trotz des Weines ziemlich nüchtern und fit, so war es nicht schwer, das Überraschungsmoment zu nutzen, den ‚Jimi‘ rauszuhauen und mit ihm in eine Straßenbahn zu springen, die glücklicherweise gerade vorbeikam. Wir fuhren nur eine Station bis zum Fischmarkt, von wo es einen Katzensprung bis zu meiner Wohnung war.
Auf dem Weg erzählte er mir in bestem Englisch, dass er Algerier sei, nicht Jimi, sondern Mohamed hieß und mit einigen Dutzend Landsleuten zur Berufsausbildung für vier Jahre in Erfurt. Davon hatte ich überhaupt nichts mitgekriegt, weil nirgendwo darüber berichtet worden war.
Erstmal war aber dran, seine Wunden zu reinigen und zu verbinden.
Er blutete am Kopf und an der Schulter. Einigermaßen wiederhergestellt, wurde er ausgesprochen redselig, wohl froh, einen Deutschen gefunden zu haben, dem er gerade wegen seines Aussehens und seiner Herkunft sympathisch war. Denn bisher hatte er von meinen Erfurtern eher das Gegenteil erfahren.
So leerten wir – zunehmend fröhlich – zur Tonbandmusik von Jimi Hendrix – noch zwei Flaschen, ich Wein, er Wasser. Dann brachte ich ihn per Straßenbahn ins Wohnheim in der „Straße der Völkerfreundschaft“ (!).
Leider habe ich ihn nicht wiedergesehen, denn ich bin am nächsten Tag in den Urlaub gefahren. Über die angebliche „internationale Solidarität“ der DDR-Jugend habe ich bis zu deren Ende noch gelacht. Das ist mir allerdings längst vergangen.