30 Jahre Deutsche Einheit: „Ein Volk!“

Buchbesprechung „Wir sind ein Volk! - Oder?“

Wie stellt man ein Buch zu einem Jahrhundertthema vor, das 20 Autorinnen und Autoren in sich vereint, die — auf sehr unterschiedliche Weise — alle etwas durchaus Lesenswertes zum Thema „30 Jahre Deutsche Einheit“ zu sagen haben? Die Einleitung mindestens hat sich als Akt selbständiger Spontanität meines Unterbewusstseins ergeben: Als Stichwort für die Word-Datei war mir der Buchtitel zu lang und ich habe ohne zu überlegen „Ein Volk!“ in die Kopfzeile geschrieben. Und stelle fest, genau das ist (für mich) die Antwort auf die Frage von Freya Klier als Herausgeberin:

Ja, wir sind ein Volk. Mögen das andere auch anders sehen. In der DDR hätten wir gesagt, die „ewig Gestrigen“ werden nicht alle. Ich bekenne mich dazu und, wenn ich sie richtig verstehe, die anderen Beiträge in diesem Buch auch.

Was nicht heißt, dass wir immer einer Meinung wären. Zumal sich unser Erfahrungshorizont erlebnisreich von 1929 an aufspannt und die Perspektive von Jena bis Vermont und Neustrelitz bis Stuttgart reicht. Man sieht gleich, Ost und West, Süd und Nord sind unter dem Buchdeckel versammelt, Alter und Sozialisation ganz unterschiedlich, aber die Blickrichtung ist die gleiche.

Das macht die Lektüre spannend. Freya Klier (Jg. 50, Dresden) hat Menschen um Beiträge gebeten, die DDR- und Alt-BRD-Zeiten, die Friedliche Revolution und die Jahre des Vereinigungsprozesses intensiv erlebt, ja, an ganz verschiedenen Orten und Brennpunkten mitgestaltet haben. Und die gut lesbar davon berichten können.

Jaja, bei Reiner Kunze (Jg. 33, Oelsnitz) versteht sich letztere Bemerkung von selbst, wenngleich beim Altmeister deutscher Lyrik das Verb „berichten“ in keiner Weise angemessen ist. Wunderbar, dass es Klier gelungen ist, ihm zwei seiner Kleinodien und ein Interview zu entlocken. Er eröffnet jeweils die drei Abschnitte des Buches. Dazu enthalte ich mich ehrfürchtig jeglichen Kommentares. Lesen Sie selbst. Schon deswegen lohnt sich das ganze Buch.

Und zu den Promis unter den Autoren muss ich hier auch nichts sagen, die Namen sprechen für sich selbst. Peter Tauber (Jg. 74, Frankfurt/M) als integrer und von seiner vergleichsweise noch jungen politischen Biographie her überzeugender Christdemokrat genauso wie der ältere (langsam schon weise) Wolfgang Thierse (Jg. 43, Breslau), als bekennender (und praktizierender) Katholik eine ganz besondere Sorte Sozi und Norbert Lammert (Jg. 48, Bochum), der für mein Empfinden die Ebenen der Parteipolitik längst verlassen hat und für mich immer ein überzeugendes Beispiel der (nicht überwältigend großen) aufrechten westdeutschen Demokratengeneration war, die den Einheitsprozess immer aus gesamtdeutscher Perspektive gesehen hat.

Auch wegen ihrer Beiträge sollte man das Buch lesen. Und nun vermuten Sie sicher schon, was ich jetzt sagen werde: Ja, und genauso wegen der anderen 16 Beiträge lohnt sich die Lektüre. Das ist tatsächlich meine Überzeugung, denn glauben Sie mir, ich bin ein sehr kritischer Leser von Sachbüchern politischen Inhalts, in denen allzu oft nur Erkenntnisse und Erlebnisse aneinandergereiht werden, die wir auch selber schon hatten. Leider kann ich nicht auf jede Autorin, jeden Verfasser und jeden Beitrag eingehen, ich täte es gern. Deshalb lassen Sie mich im Folgenden einige Bemerkungen machen, die eher persönlicher Natur sind und den Buchtitel „Wir sind ein Volk!“ im Blick auf zuerst zusammenhanglos erscheinende Ereignisse kommentieren, die in den verschiedenen Beiträgen geschildert werden.

So berichtet Gesine Keller (Jg. 59, Hamburg), wie sie im Januar 1990 mit ihrer Stuttgarter Theatertruppe durch die (noch sehr rot gefärbte) DDR reist und im Zusammenhang mit einem Auftritt in Leipzig mit der Regisseurin der (kirchlichen) Leipziger Spielgemeinde zusammentrifft, die in der DDR über Jahrzehnte mutig Stücke inszeniert hat, die im staatlichen Theater nicht gespielt werden durften, im Altarraum einer Kirche aber schon. Ich füge hinzu: Und ebendiese Regisseurin, Katrin Fischer, war 1973 die erste, die Reiner Kunzes eben im Leipziger Reclamverlag erschienenes Buch „Brief mit blauem Siegel“ auf die (Kirchen-)Bühne brachte und damit einem breiten Publikum zugänglich machen konnte. Denn Kunze hatte zuvor jahrelang Publikationsverbot und das Reclambändchen war so schnell vergriffen, wie es unter dem Ladentisch landete. Fischer und Keller und Kunze — ein Volk.

Im Herbst 1976 kursierten in der DDR Listen mit Namen von politischen Häftlingen, die wegen ihrer Proteste gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann festgenommen worden waren. Auf diesen Listen stand neben Jürgen Fuchs und Gerulf Pannach auch der Name von Doris Liebermann (Jg. 53, Hildburghausen). Alle drei wurden (mit anderen zusammen) 1977 ausgebürgert, aber haben sich fortan von dort aus für die aufmüpfige Jugend in ihrer Heimat engagiert. Trotzdem waren sie uns unersätzlich. Ein großer Trost immerhin, als mit Stephan Krawczyk (Jg. 55, Weida) uns in den 80er Jahren ein neuer sangeskräftiger Barde erwuchs, in dessen Lieder wir wieder einstimmen konnten. Liebermann, Fuchs, Krawczyk – ein Volk.

1983 war Lutherjahr, der 500. Geburtstag des Reformators, selbstverständlich in ganz Deutschland. In der DDR aber wurde er per Beschluss der SED zum Nationalhelden. Was nicht bedeutete, dass es in der Diktatur des Proletariats plötzlich liberaler zuging. Während die Evangelischen Kirchen im Lutherland ihren Gründer möglichst unpolitisch abfeierten, gründeten sich in ihren ehrwürdigen Gemäuern Friedens- und Umweltgruppen, die ihre Aktivitäten in eine deutsch-deutsche Perspektive stellten. In Wittenberg sprach Richard von Weizsäcker von der gemeinsamen Luft, die wir in beiden Deutschlands atmen und Stefan Nau schmiedete ein Schwert zu einer Pflugschar um. In Halle hatte sich gerade mit Heidi Bohley (Jg. 50, Görlitz) eine Frauenfriedensgruppe konstituiert und eine Aktivistin saß bereits im Knast, so dass in Wittenberg neben dem Schmiedefeuer eine Unterschriftenliste für die Freilassung der Hallenserin auslag. Weizsäcker, Nau, Bohley – ein Volk.

Diese dreifache Schlussfolgerung werden nicht alle im Blick auf ihr Leben unterschreiben können. Das ist auch nicht nötig. Wichtig bleibt, was Reiner Kunze schon 1990 gesagt hat: „Deutsche, die noch nicht begriffen haben, was Deutschland und der Welt durch die Einheit gegeben worden ist, leben gewiss nicht nur auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Man kann nur hoffen, dass es sehr bald genug Deutsche gibt, die es begreifen, dass wir genügend schöpferisch, genügend bescheiden und genügend dankbar sind.“ (im vorgestellten Buch S. 155). Das sollten sich vor allem diejenigen hinter die Ohren schreiben, die meinen, man müsste heute wieder „Wir sind das Volk“ rufen und damit eine Anspruchshaltung zum Ausdruck bringen, die keineswegs schöpferisch ist und schon gar nichts mit Bescheidenheit und Dankbarkeit zu tun hat.

Kurz-Lesungen


© Herder Verlag, 2020

Lesungen 2020

Mit Lothar Tautz

  • , Dom in Naumburg/Saale

    Lesung mit: Birgit Neumann-Becker, Freya Klier, Lothar Tautz und Stephan Krawczyk

  • , Pauluskirche in Magdeburg

    Lesung mit: Birgit Neumann-Becker, Freya Klier, Lothar Tautz und Stephan Krawczyk

  • , St. Trinitatis-Kirche in Gera

    Lesung mit: Elisabeth Kaiser, MdB, Freya Klier, Lothar Tautz und Stephan Krawczyk

  • , Altes Rathaus in Jena

    Lesung mit: Ursula Nirsberger, Freya Klier, Doris Liebermann, Lothar Tautz und Stephan Krawczyk

Weitere Termine können auf der Seite des Verlags entnommen werden.