Die Bedeutung der kirchlichen Friedensbewegung
für die Entwicklung von Dissidenz und Opposition in der DDR — aus der Perspektive der mitteldeutschen Provinz
Die Geschichte der DDR wird in der Öffentlichkeit nostalgisch verklärt, die der alten Bundesrepublik vom Gipfel der längst vergangenen Wohlstandsgesellschaft aus betrachtet. Das ist nicht nur unhistorisch, sondern erschwert auch das Zusammenleben in der Gegenwart. Daraus erklären sich solche populistischen Parolen wie: „Vom Aufbau Ost zum Absturz West“ und die verbreitete Depression im Osten, die wir schon aus DDR – Zeiten kennen: „Es hat ja alles keinen Zweck!“. Die missbräuchliche Titulierung der montäglichen Protestdemonstrationen gegen den Popanz „Sozialabbau“ ist ein weiterer Ausdruck dieser Art Geschichtsklitterung.
Glücklicherweise ist damit nicht umfassend der Zustand der inneren Einheit der Bundesrepublik Deutschland beschrieben. Politiker beschwören den „Abbau der Mauer in den Köpfen“, Historiker proben eine neue Geschichtsbetrachtung und entwerfen das Bild von der „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte der beiden deutschen Staaten“, um der vergangenen Wirklichkeit der letzten 50 Jahre näher zu kommen. Dabei stellen manche mit gewissen Erstaunen fest, dass in der DDR nicht alles nur schlecht war und in der BRD nicht immer jegliches zum besten stand. Die Lehrkräfte in den Schulen mühen sich redlich, „unseren“ Jugendlichen ein Geschichtsbild zu vermitteln, das ihnen verstehen hilft, in welcher Welt ihre Eltern gelebt haben und wo die Wurzeln der Gegenwartsprobleme in Ost- und Westdeutschland liegen. Diesen Vermittlungsprozess zu befördern, sollte das praktische Ziel von Geschichtsschreibung sein und der Zweck der folgenden Darstellung ist damit auch genannt.
Fünfzehn Jahre nach dem Mauerfall unternimmt es dankenswerter Weise das Deutschland Archiv, sich diesem Thema zum wiederholten Mal zu stellen. Nun ist die Zahl 15 kein Grund für eine Gedenkfeier besonderer Art, aber Gelegenheit — mit solchem zeitlichen Abstand — die Entwicklung der DDR neu in den Blick zu nehmen. Der Blick soll hier in besonderer Weise auf die Provinz gerichtet werden, denn die Berlin – Lastigkeit in der deutsch – deutschen Wahrnehmung hat sich leider über Mauerfall und Vereinigung hinaus fortgesetzt. Hier gibt es ein Forschungsdefizit, das dringend weiter abgebaut werden muss. Denn dass sich die revolutionären Aktivitäten im Herbst 1989 — initiiert durch die Leipziger Friedensgebete — in rasantem Tempo flächendeckend vom Inselsberg bis Kap Arkona ausbreiteten, ist nur durch die Parallelität der politischen Entwicklung in Hauptstadt und Provinz vor allem in den 80er Jahren erklärbar. Außerdem würde es vielleicht die gegenwärtige Frustration vermindern helfen, wenn „dem Volk“ in den ehemaligen Bezirken Halle oder Neubrandenburg wieder in Erinnerung käme, dass es selbst 1989 die SED und ihre Handlanger aus den Blockparteien entmachtete. Dazu gehörte dann auch das Eingeständnis, dass die Demonstranten im nächsten Schritt die Marktwirtschaft so schnell als möglich vor die eigene Haustür wünschten, ohne lange zu fragen, welches für die Zukunft verwertbare demokratische Potential sich denn in den oppositionellen Bürgerbewegungen der DDR angesammelt hatte.
In Hinsicht auf dieses demokratische Potential erscheint es dem Verfasser sinnvoll, sich noch einmal der Bedeutung der kirchlichen Friedensbewegung in der DDR zuzuwenden — dem Thema, dass das Deutschland Archiv für diesen Beitrag auch vorgegeben hatte. Zumal die heutige Weltlage es geradezu zwingend erscheinen lässt zu fragen: Welche Traditionen aus der deutsch – deutschen Geschichte lohnt es sich wieder aufzugreifen, um die eigene Friedensfähigkeit zu stärken und Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz zu widerstehen?
In den Jahren 1979/80 haben sich alle wesentlichen oppositionellen Initiativen der DDR – Kirchen, ob sie nun aus der Menschenrechts– oder Biermann – Protest – Bewegung oder aus der offenen Arbeit kamen, unter dem Friedensthema versammelt. Daraus entstand die Kraft solcher Aktionen, wie sie mit der Losung „Schwerter zu Pflugscharen“ verbunden waren. Der politische Prozess zwischen der ersten Friedensdekade im November 1980 und der Schmiedeaktion auf dem Wittenberger Kirchentag 1983 zeigte der SED – Führung und dem MfS seit 1953 erstmals wieder, dass ihre Macht Grenzen hat: Es waren zu viele Menschen, vor allem junge, die sich zunehmend innerhalb der Kirche engagierten, als dass man sie hätte in „bewährter“ Weise disziplinieren oder gar verhaften und abschieben können. (Was nicht heißt, dass dies dennoch immer wieder geschah.) Aus dieser Bewegung entstanden die oppositionellen kirchlichen Gruppen der 80er Jahre und auch eher unabhängigen Zusammenschlüsse wie die „Initiative für Menschenrechte“ waren ohne sie undenkbar. Vielleicht ließe es sich so formulieren: Die (erstaunliche) Friedlichkeit der Herbstrevolution 1989 ist dadurch erklärbar, dass sie letztlich die Konsequenz der kirchlichen Friedensbewegung in der DDR war.
Bei der folgenden Betrachtung der Friedensbewegung wird sich der Verfasser auf die mitteldeutsche Provinz beziehen (das ist in diesem Falle das Gebiet zwischen Wittenberg und Jena sowie Erfurt und Dresden), da er hier den besten Einblick hat. Der Umstand der eigenen Mitwirkung an zahlreichen Papieren und Aktionen in jener Zeit wird diesen Blick hoffentlich in seiner Klarheit stärken und nicht die Objekte verklären.
I.
Wer die Wurzeln der kirchlichen Friedensbewegung in der DDR kennenlernen will, darf nicht nur auf die Stationierung der sowjetischen SS – 20 – Raketen und den sogenannten Nato – Doppelbeschluss im Jahr 1979 sehen, sondern sollte zuerst auf ein weltpolitisch ganz unbedeutendes Ereignis schauen, nämlich auf die Synode des „Bundes Evangelischer Kirchen“ vom 30. Juni bis 4. Juli 1972 in Dresden, wo der Erfurter Propst Heino Falcke einen Vortrag zum Thema „Christus befreit — darum Kirche für andere“ hielt. Der aufmerksamen Zuhörerschaft war sofort klar (und der Stasi auch), dass hier erstmals nach der brutalen Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 in wohl gesetzten und allgemein verständlichen Worten ein „Plädoyer für politische Freiheit und gesellschaftliche Mündigkeit“ 1 gehalten wurde, das künftig oppositionelles Engagement innerhalb des sozialistischen Staates zumindest vor dem eigenen Gewissen und der evangelischen Kirche legitimieren könnte. Der Kernsatz, den in den Folgejahren ganze Studentengemeinden auswendig hersagen konnten, lautete: „Christus befreit aus der lähmenden Alternative zwischen prinzipieller Antistellung und unkritischem Sich–vereinnahmen–lassen zu konkret unterscheidender Mitarbeit“. 2
Damit war dem Individuum wieder ein politischer Handlungsspielraum gegeben, der in geschlossenen Gesellschaft der DDR von staatswegen nicht vorgesehen war. Das musste zu Konflikten führen. Die Eindämmung emanzipatorischer („mündiger“) Aktivitäten von einzelnen Kirchenleuten und Gemeindegruppen erschwerte sich in der Folgezeit die SED – Führung aber selbst: Durch ihre Teilnahme am KSZE – Prozess seit Juli 1973 und mit der Unterzeichnung der Schlussakte am 1. August 1975. Die Aufnahme der Menschenrechtsthematik in Korb 3 wirkte sich direkt auf die kirchliche Diskussion über die Situation in der DDR aus, war doch der Grundsatz der „Achtung der Grundrechte und Grundfreiheiten einschließlich der Gedanken–, Gewissens–, Religions– oder Überzeugungsfreiheit“ (Prinzip V der „10 Prinzipien zu Fragen der Sicherheit in Europa“) ausdrücklich aufgenommen worden. 3 Angeregt von der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Nairobi 1975 wurden in einem offenen Gesprächsprozess „Erfahrungen in der Gewährleistung von Menschenrechten“ formuliert, die wiederum im Juli 1976 in ein „Memorandum …über die Rolle der Kirchen bei der Anwendung der Schlußakte“ der KSZE führten. Dort waren solche Sätze zu lesen, wie: „Durch die Mitgliedskirchen haben wir im Rahmen der ökumenischen Bewegung Zugang zu Tausenden von Ortsgemeinden und können uns glücklich schätzen, daß uns damit die Möglichkeit gegeben ist, alle notwendigen Informationen und Voraussetzungen für die Verbesserung der Menschenrechtssituation zu verbreiten und allgemein bekanntzumachen.“ 4 Das konnte als Auftrag verstanden werden, den jede/r nachlesen konnte, wenn sie / er wollte, denn es existierten nicht nur Wachsmatrizenabzüge von diesem wertvollen Materialien, sondern die Kirchenprovinz Sachsen druckte diese Dokumente im Januar und Februar 1977 sogar in ihrem Amtsblatt ab.
II.
Zuerst waren es einzelne DDR – Bürger (die jetzt ihr Ausreisebegehren legitimiert sahen), Künstler und Kirchenleute, die unverdrossen Unrecht benannten und die in der Schlussakte von Helsinki (Korb III) formulierten individuellen Freiheitsrechte für sich reklamierten. Zu den letzteren gehörte auch Oskar Brüsewitz, Pfarrer in Rippicha bei Zeitz, der mit beleuchteten Kirchturmkreuzen und Plakataktionen von sich reden machte. Er scheute sich nicht, neben das staatliche Transparent „25 Jahre DDR“, ein persönliches Schriftband „2000 Jahre Kirche Jesu Christi“ zu hängen und gegenüber dem sozialistischen einen kirchlichen Sportplatz einzurichten unter der Losung: „Die auf Gott vertrauen, erhalten neue Kraft“. 5
Allerdings wurden seine Aktionen häufig aus unverdächtiger Ferne bewundert, wirkten sie doch manchmal wie die des mittelalterlichen Narren, der seiner Gesellschaft den Spiegel vorhält. Das kann, wie man aus der Geschichte weiß, für den Akteur gefährlich werden. Deshalb blieb er allzu häufig allein, sah sich im „Kampf gegen das Böse“ von seiner Kirche in Stich gelassen. So muss der Gedanke gereift sein, in der Sorge um die Jugend durch ein Selbstopfer auf die von Unrecht und Lüge geprägten Lebensverhältnisse in der DDR aufmerksam zu machen. Noch im Tod auf die Solidarität seiner Glaubensgeschwister hoffend — „Die Kirchen klagen den Kommunismus wegen Unterdrückung der Jugend an“ 6, protestierte er gegen das Programm der „allseits gebildeten sozialistischen Persönlichkeit“..
Der politischen Dimension dieser existentiellen Problematik entsprechend war die Auseinandersetzung in den Folgewochen des 18. August innerhalb der Kirche, zwischen ihrer Leitung und dem Staatsapparat, national und international heftig. Es ging um die Deutung der Tat und die Botschaft des Protestes. Vor allem SED und CDU versuchten, Brüsewitz als Geisteskranken hinzustellen, damit jede weitere Diskussion überflüssig würde. 7 Aber trotz brachialer Unterdrückungsmaßnahmen und Verbotes von Kirchenzeitungen setzte sich unter den Christen und dann auch in breiten Kreisen der Bevölkerung die Überzeugung durch, dass hier ein gewissenbehafteter Mensch einen Opfertod gestorben war, der damit auf schwerwiegende Defizite bei der Einhaltung der Menschenrechte hinweisen wollte. 8 Der Verfasser formulierte im Frühjahr 1977 dazu: „Die gesellschaftlichen Wirkungen der Selbstverbrennung von Pfarrer Brüsewitz sind zur Zeit noch nicht erkennbar, schon gar nicht von jemanden, der mitten in dieser Gesellschaft lebt. Vielleicht aber war die Intensität der Reaktion vieler DDR – Bürger auf die Ausweisung von Wolf Biermann, die von einem gewachsenen Verantwortungsbewußtsein unserem Staat und uns selbst gegenüber zeugte, ein erstes Zeichen dafür.“ 9
Die Dokumentation über die Ereignisse um Pfarrer Brüsewitz und die Biermann – Protest – Bewegung, im Juni 1977 als Ergebnis der Arbeit der Naumburger Menschenrechtsgruppe innerhalb der ESG als Samisdat – Produktion veröffentlicht, trug die Überschrift „Kirche zwischen Opportunismus und Opposition. 10 Bischof Krusche nahm diesen Titel auf, als er im selben Jahr formulierte: „Die Kirche sucht in der DDR – Gesellschaft den schmalen Weg zwischen Opposition und Opportunismus zu gehen.“ 11. In beiden Fällen ist die Standortbestimmung Heino Falckes aktuell interpretiert, nur war die Naumburger Menschenrechtsgruppe in der Zielrichtung optimistischer: Zwischen (heutigem) Opportunismus und (künftiger) Opposition.
So bedeutete für die Kirche als auch für die säkulare DDR – Gesellschaft das „Signal von Zeitz“ 12 den Aufbruch vom bloßen Opportunismus der Staatsdoktrin gegenüber hin zur „kritischen Begleitung im Sinne von Verbesserung“ der Entwicklung des Sozialismus und von der individuellen oppositionellen Haltung zur Bildung von oppositionellen Gruppen, später Netzwerken. Wenn der Themenkatalog des Magdeburger Synodalen Höppner vom September 1976 für die Herbstsynode in Magdeburg im Eindruck der Selbstverbrennung zu einer „vom Sozialdemokratismus beeinflußte(n) Konzeption“ entwickelt wird, „wie die Kirche den Sozialismus ‚vermenschlichen‘ könne“ 13, dann ist die Richtung angezeigt, in der sich die DDR – Opposition in den 80er Jahren entwickeln wird. Und wenn der Merseburger Studentenpfarrer Schorlemmer auf der gleichen Synode fordert, „daß die Kirche als ‚Schutzzone‘ für politisch Andersdenkende dienen muß“ 14, dann ist die künftige Aufgabe für die evangelischen Gemeinden in einem totalitären Staat beschrieben.
5: vgl. im Folgenden: Warte nicht auf bess’re Zeiten, Lothar Tautz / Christian Radeke, Halle (Saale), 1999
6: ebenda, S. 21
III.
Zunächst stellten jedoch die Menschenrechtler/–innen den Zusammenhang zwischen den allgemeinen Menschenrechten und der Friedensfrage her: Am 29. April 1977 unterzeichneten in Querfurt Mitglieder einer „ökumenischen Predigt – Arbeitsgemeinschaft“ ein Dokument, das mit der Aufforderung zu „Friede und Gerechtigkeit heute“ überschrieben war. 15 Die argumentative Basis für das später so genannte Querfurter Papier war denn auch der Korb III der KSZE – Schlussakte. Angeregt zu eigener Stellungnahme hatte die Querfurter die Veröffentlichung der „Charta 77“. Verstärkung in der inhaltlichen Arbeit bekamen sie aus der oben bereits erwähnten Naumburger Menschenrechtsgruppe, die vor allem im ersten Teil zum Thema Frieden Formulierungshilfe leistete. Darin wird dem Prinzip des Klassenkampfes eine eindeutige Absage erteilt und der staatsoffizielle Begriff der friedlichen Koexistenz als unzureichend erklärt: „Statt Einübung in den Haß brauchen wir Training in Toleranz, statt Abgrenzung Brücken der Verständigung, statt geistiger und materieller Aufrüstung Bereitschaft, füreinander Opfer zu bringen“ 16 — Forderungen, die in ihrer Aktualität nichts verloren haben.
Durch Unterschriftensammlungen in der Querfurter Region und Verteilaktionen vor allem durch die Naumburger Gruppe fand das Dokument seinen Weg nicht nur in die Kirchenleitungen und zu andern Gemeindegruppen. Exemplare gelangten auch zu den Berliner Künstlern, die sich für Biermann engagierten, zu Havemann und nach Westberlin, in das „Komitee für Freiheit und Sozialismus“, letzteres zum Zwecke der Veröffentlichung, sofern die Autor/-innen inhaftiert werden würden. 17 Das geschah nicht, hingegen wurde das Querfurter Papier in einer der wichtigsten Oppositionsgruppen ausgewertet, die in jener Zeit agierte. Das MfS stellte in einer ›Information über die Entwicklung und das Wirken der innerkirchlich oppositionellen Gruppierung katholischer Priester und Akademiker, genannt „Aktionskreis Halle“ (AKH)‹ vom 3. 11. 1977 (BV Halle, Abt. XX/4, BStU Blatt 22 – 26) fest:
„So forderte Tautz, der aktive Unterstützung von Garstecki erhielt, gemeinsame Aktionen der evangelischen und katholischen Kirche im Sinne einer Bürgerrechtsbewegung.
Tautz unterstrich, daß aufgrund der bisher fehlenden Reaktionen beider Bischöfe erneut vom ›Querfurter Ökumenekreis‹ ein Brief an sie gerichtet würde, in dem sie dazu aufgefordert werden:
- Bei den zuständigen stattlichen Stellen vorstellig zu werden und die im ›Papier‹ enthaltenen Aussagen vorzutragen.
- Das ›Papier‹ dem breiten Kreis der kirchlichen Mitarbeiter und Gemeindeglieder inhaltlich zur Kenntnis zu geben.
- Ein gemeinsames Hirtenwort zu der im ›Papier‹ enthaltenen Problematik abzugeben.“ 18
(Anm. d. Verf.: Hier ist der Osterhausener katholische Vikar Dieter Tautz gemeint, einer der Initiatoren des „Papiers“.)
Die Bischöfe folgten dieser Aufforderung nicht, allerdings konnte Joachim Garstecki die Intentionen des Querfurter Papiers auch später hervorragend in seine Arbeit als langjähriger Referent für Friedensfragen in der theologischen Studienabteilung des Bundes Evangelischer Kirchen einbringen.
15: vgl. im Folgenden: Das Querfurter Papier — in politisches Manifest für die Einhaltung der Menschenrechte in der DDR, in: Sachbeiträge (Band 22), Lothar Tautz, Magdeburg 2002
16: ebenda, S. 8
17: Tautz / Radeke 1999, S. 143
18: ebenda, Blatt 25
IV.
Neben den Stellungnahmen der Kirchen und kirchlichen Gruppen wirkte seit Mitte der 70er Jahre immer mehr die rabiate Einberufungs– und Wehrdienstpraxis der zuständigen Staatsorgane auf das Friedensengagement der Betroffenen. Das wirkte sich vor allem in den Studentengemeinden aus. So beschwert sich denn Oberstleutnant Gröger als Leiter der Abteilung XX des MfS Halle am 25. 5. 1977 in einer „Information über die Existenz und das Wirken der Evangelischen Studentengemeinden (ESG) im Bezirk Halle“ 19, dass „eine Reihe von Studenten / Jugendlichen, die bisher eine gute gesellschaftliche Arbeit leisteten und Mitglied gesellschaftlicher Organisationen waren, die aber durch intensive Einflußnahme der negativen Kräfte innerhalb der ESG und der Jungen Gemeinde aus den Organisationen austraten, sich den christlichen Glauben zuwendeten, getauft wurden, den Wehrdienst mit der Waffe in der Hand aus Glaubensgründen verweigerten und jetzt aktiv in der ESG bzw. in kirchlichen Einrichtungen tätig sind“. 20 Er stellt auch gleich selbst den zeitgeschichtlichen Zusammenhang her: „Das Wirken der ESG zeigt sich auch in den Sympathiebekundungen für den ehemaligen Pfarrer Brüsewitz, dem Liedermacher Biermann, dem Schriftsteller Kunze sowie in den negativen Diskussionen über Entscheidungen und Beschlüsse von Partei und Regierung durch Studenten im Sicherungsbereich der BV Halle.“ 21 Nachdem er zusammenfassen muss: „Die Analysierung der Arbeit der einzelnen ESG verdeutlicht, dass die ESG von der Methode ihrer bisherigen Passivität abgegangen sind und seit einiger Zeit das gesellschaftliche Engagement in den Vordergrund stellen“ 22, kommt er zu dem Schluss, dass die „Einleitung von offensiven Maßnahmen zur Isolierung, Zersetzung und Zurückdrängung des ideologischen Einflusses der Tätigkeit der ESG an den Hochschulen und Universitäten“ unbedingt in Angriff genommen werden müsse. 23
In Grögers Bericht waren Edelbert Richter / Naumburg und Friedrich Schorlemmer / Merseburg als Studentenpfarrer namentlich benannt, über die er nicht zu unrecht mitteilte, sie würden sich und die Studenten darauf orientieren, „sich intensiv mit der sozialistischen Umwelt zu befassen, den Marxismus / Leninismus zu analysieren und sich mit der Umwelt kritisch auseinanderzusetzen“. 24 Das geschah in Naumburg im ESG – Arbeitskreis „Glauben und Denken“, der sich tatsächlich schwerpunktmäßig mit dem Marxismus theologisch auseinandersetzte.
Seit 1978 war allerdings der politische Schwerpunkt der ESG – Arbeit ganz klar die Friedensthematik. Aktuell provoziert hatte das die Volksbildungsministerin der DDR, Margot Honecker, die mit Beginn des neuen Schuljahres am 1. September das Fach „Wehrkunde“ einführen wollte. Der Mitarbeiterkreis der Naumburger ESG verfasste darauf hin am 4. Mai 1978 einen offenen Brief an alle Studentengemeinden in der DDR, in dem gefordert wurde, die DDR solle –ihrem Anspruch, ein Staat des Friedens zu sein, dadurch Ausdruck verleihen (…), daß sie an den Schulen ein Fach ›Erziehung zum Frieden‹ einführt.“ 25 Obwohl dieser Brief in kirchlichen Kreisen und bei der Stasi DDR – weit Beachtung fand und die Bischöfe Krusche, Leich und Wanke sich gegen den Wehrkundeunterricht aussprachen, wurde das Fach wie geplant eingeführt. Die Friedensarbeit der Studentengemeinden wurde intensiver.
Die forcierte Aufrüstung der Warschauer – Pakt – Staaten und der Nato – Doppelbeschluss von 1979 hatten ein Übriges für deren Motivation getan, so dass die Naumburger im Herbst 1980 ihre Überlegungen, Diskussionen und Erfahrungen zusammenfassten und einen (wiederum) offenen Brief zum Thema „Erziehung zum Frieden“ schrieben. Dessen Forderungen waren weithin vom Gedankengut der von Joachim Garstecki verfassten Arbeitshilfe der Theologischen Studienabteilung „Erziehung zum Frieden, Anregungen und Vorschläge für die Durchführung von Gemeindeveranstaltungen zum Thema Erziehung zum Frieden“ von 1976 geprägt, die im Aufrüstungsjahr in erweiterter und aktualisierter Form noch einmal erschien.
Diese Initiative war keine Einzelerscheinung, denn die „jüngsten Aktivitäten von Seminaristen des Katechetischen Oberseminars Naumburg sind im Zusammenhang mit den Aktivitäten der Arbeitskreise ‚Erziehung zum Frieden‘ der Evangelischen Studentengemeinden, insbesondere in Magdeburg, Berlin und Dresden, zu sehen“. 26 Wegen dieses Zusammenhangs und des als strafrechtlich relevant bewerteten Inhalts — mit der „Herstellung und Verbreitung dieses Pamphlets … (war der) Tatbestand des § 106 Abs. 1, Ziffer 1 und 4 STGB erfüllt“ 27 — gelangte der Vorgang bis auf Generalleutnant Mittigs Schreibtisch 28 und führte zu einer „streng geheimen“ exemplar– und blattweise numerierten Information des MfS vom 12. Januar 1981. 29
Dort heißt es: „In der Vorlage wird u. a. der Willen der Seminaristen des Katechetischen Oberseminars Naumburg bekundet, ›nicht mehr durch die Vernichtungsmaschinerie des Schreckensgleichgewichts geschützt zu werden‹, sich ›nicht mehr direkt oder indirekt an der Aufrechterhaltung bzw. ideologischen Sanktionierung dieses Sicherheitsrisikos zu beteiligen‹ und ›den Friedensdienst ohne Waffe als das deutlichere Zeugnis des gegenwärtigen Friedensangebotes unseres Herrn zu betrachten‹“. 30 Damit war die zeitgleiche Initiative für einen „Sozialen Friedensdienst“ (SoFD) von Christoph Wonneberger in Dresden inhaltlich aufgenommen 31, was der Brisanz des offenen Briefes in den Augen der Stasi noch Nachdruck verlieh. Den Beschluss des Briefes durch die Vollversammlung der Naumburger Studentenschaft am 13. Januar 1981 konnte sie trotz forciertem IM – Einsatz und verdeckter sowie offener Einflussnahme über Kirchenleitung und Rektorat nicht verhindern und auch dessen Ausbreitung nicht.
19: BstU Sachakte 853, Seite 1
20: ebenda, Seite 7f
21: ebenda, Seite 8
22: ebenda, Seite 3
23: ebenda, Seite 13
24: ebenda, Seite 4
25: Neubert1997, S. 305
26: BstU Zentralarchiv Nr. 350, Blatt 145, Vermerk vom 5. Januar 1981
27: Sachakten Nr. 348, MfS BV Halle, Abt. XX, BstU Blatt 61: Aus der strafrechtlichen Einschätzung zum OV „Seminarist“ vom 15. Januar 1981
28: BstU Zentralarchiv Nr. 350, Blatt 141, Vermerk vom 5. Januar 1981
29: Sachakten Nr. 348, Blatt 62 – 69
V.
Dennoch zeigten die ärgerlichen Erfahrungen mit der Hochschul– und Kirchenleitung, dass sich die politisch Aktiven in den Studenten– und Jungen Gemeinden und in der offenen Arbeit zum Zwecke von ‚staatsfeindlichen‘ Friedensinitiativen anders organisieren mussten, um effektiver wirksam werden zu können: Überregional und möglichst unabhängig von der kirchlichen Administration. Über die Entstehung und Arbeitsweise von „Frieden konkret“ ist bereits das Wesentliche bekannt, deshalb soll an dieser Stelle von einem anderen Netzwerk die Rede sein, dem Neubert in der 1. Auflage seiner „Geschichte der Opposition“ in keiner Weise gerecht wird — der Gruppe „Frieden ’83“. 32
Friedrich Schorlemmer war 1978 von der Kirchenleitung als Dozent in das Wittenberger Predigerseminar berufen worden. Mit den Erfahrungen der Studentengemeindearbeit ausgerüstet, war unter seiner Anleitung an der Schlosskirche ein Gesprächskreis von jungen Erwachsenen entstanden, der sich von Beginn an der Friedensthematik annahm. Mit den Planungen für das Lutherjahr 1983, in dem erstmals sieben Kirchentage in Reihe mit internationaler Beteiligung stattfinden sollten, wurde die Gründung oder Stärkung von Orts– und Studentengemeindeunabhängigen Friedensgruppen und deren Vernetzung immer dringender.
So kam es am 5. Januar 1983 in Halle zur Gründung der überregionalen Friedensinitiative „Frieden ’83“. 33 Dreißig VertreterInnen von Friedensgruppen aus der südlichen DDR waren zusammengekommen. Sie wollten in die Kirche und in die Gesellschaft hinein wirken — als eine Gruppe, die sich verbindlich mit allen Konsequenzen für den Frieden in einer existenzbedrohenden Situation einsetzt: Mit dem persönlichen Engagement gegen jede weitere Aufrüstung, gegen jede Beteiligung am System der Abschreckung, gegen jede weitere Militarisierung des Denkens und öffentlichen Lebens. Eine Basiserklärung wurde in einem längeren Diskussionsprozess verabschiedet und eine Eingabe — zusammen mit einer großen Unterschriftenaktion — an die Bundessynode der DDR – Kirchen im Juni 1983 nach Potsdam gerichtet. 34 Der Inhalt der Basiserklärung mit der Überschrift „Die Gefahr erkennen – den Glauben bekennen – den Frieden leben“ hat Anklänge an die zeitgleich vom Magdeburger Akademiedirektor Hans – Jochen Tschiche konzipierte „Bruderschaft Frieden konkret“ (später „Solidargemeinschaft“ 35), die nicht zufällig war, denn die Verbindungen zwischen den verschiedenen Friedenskreisen waren inzwischen eng, Quellenschutz war weder beabsichtigt noch erwünscht und parallele Versuche konnten nur die Erfolgsaussichten steigern.
Bei Frieden ’83 bestanden oder bildeten sich mit dem Gründungstag Regionalgruppen, die ausgehend von der Basiserklärung eigenen Programme entwickelten und Aktionen planten. Der Wittenberger Kirchentag im September 1983 war der letzte in der Reihe des Lutherjahres, als einziger DDR – weit konzipiert und mit besonders großer internationaler und staatlicher Beteiligung. Er sollte auch von der kirchlichen Administration her den Höhepunkt der Lutherfeierlichkeiten darstellen. 36
Die Wittenberger Gruppe hatte sich daher zum Kirchentag auch etwas besonderes ausgedacht: Eingedenk des Vorschlages von Garstecki, als „praktische aktionsorientierte Aufgaben“ sollten „konkrete Zeichen“ gesetzt werden 37, kam der Gedanke auf, die Friedensdekadelosung von 1980 „Schwerter zu Pflugscharen“ in Form einer Zeichenhandlung in die Tat umzusetzen. Das Symbol war nach den Auseinandersetzungen um die Lesezeichen und Aufnäher des Dresdener Landesjugendpfarrers Harald Bretschneider bestens bekannt, der Schöpfer der dazugehörigen Skulptur, Leninpreisträger Jewgeni Wutschetitsch durch mehrere Veröffentlichungen in der offiziellen DDR – Presse entsprechend gewürdigt 38 und ein Schmied war auch bei der Hand.
Da die Wittenberger Abteilung von Frieden ’83 eine neue Gruppe von ausgesuchten Leuten war, gab es keinen Spitzel unter ihnen, so dass die Stasi von deren Aktion erst kurz vorher erfuhr: „Im Predigerseminar (Innenhof) sollen in wenigen Minuten Biermann – Texte verlesen werden und anschließend ›eine Sache mit Kerzen‹ steigen. 39 Es waren zwar Texte von Schorlemmer und die Kerzen entwickelten sich zu einem ausgewachsenen Schmiedefeuer, aber so konnte das MfS wenigstens über die „Demonstrativhandlung“ berichten: „Dann wurde das Schwert zur Pflugschar geschmiedet. Die Hammerschläge wurden mit rhythmischen Beifall begleitet.“ 40
32: ebenda, Seite 468: drei Zeilen!
33: vgl. im Folgenden auch: Die Wende in Wittenberg: ein persönlicher Rückblick auf 10 Jahre des Widerspruchs und auf die Tage des Umbruchs, Friedrich Schorlemmer, Wittenberg 1997
34: Sachakten Nr. 4388 MfS BV Halle, Abt. XX, Blatt 1
35: vgl. Neubert, Seite 473ff
36: vgl. BstU Zenatralarchiv Nr. 3317
VI.
Damit hatte die Gruppe für ihre Arbeit eine Vorgabe gemacht, die ihr bis zum Ende der DDR Maßstab des Handelns war. Neben den regelmäßigen Treffen der ca. 250 Mitglieder (zweimal jährlich u. a. in Magdeburg, Bernburg, Halle/Saale, Torgau, Herzberg, Weißenfels und Erfurt) gab es immer wieder besondere Initiativen, die vielleicht nicht ebenso öffentlichkeitswirksam waren, aber in die DDR hinein– und manchmal auch darüber hinaus wirkten. Hier sollen noch zwei genannt und auf eine Aktion ausführlicher eingegangen werden, um exemplarisch den Einfluss dieser Friedensgruppe auf die (kirchliche) Bürgerbewegung der 80er Jahre darzustellen.
Zuerst ist festzuhalten, was auch dem MfS nicht verborgen geblieben war: „Von politisch operativer Bedeutung ist, daß während des Treffens der Gruppierung im November 1985 in Erfurt durch Pfarrer Schorlemmer erstmalig auch Vertreter von Frieden– und Umwelt – Basisgruppen unter anderem aus dem Bereich der Evangelischen Kirche in Berlin – Brandenburg und der Evangelisch – Lutherischen Landeskirche Sachsens eingeladen worden waren.“ 41 Die zunehmende Vernetzung (Delegierte von Frieden ’83 nahmen regelmäßig an den „Frieden – Konkret – Treffen“ teil) stärkte die Arbeit der Gruppe und die Entwicklung von Perestroika und Glasnost in der Sowjetunion beflügelte das allgemeine gesellschaftspolitische Engagement.
Am Tschernobyl – Tag, am 26. April 1986, fand das Frieden ’83 – Treffen in Weißenfels statt, wo sich seit 1984 eine Regionalgruppe etabliert hatte. 42 Hier konnten zum ersten Mal ausführlich die Konsequenzen der beginnenden Perestroika diskutiert werden:
„Diese Zusammenkunft alternativer kirchlicher ›Friedenskräfte‹ war darauf ausgerichtet,
- die jüngsten Beschlüsse und Direktiven des XXVII. Parteitages der KPdSU und des XI. Parteitages der SED sowie ausgewählte Reden der Gen. Gorbatschow und Honecker u. a. offizieller staatlicher Dokumente für ihre alternative ›Friedensarbeit‹ zu analysieren und auszuwerten;
- Für die unmittelbar bevorstehenden Volkswahlen und die dazu erwartete Volksaussprache, Erfahrungen zu vermitteln und Möglichkeiten aufzuzeigen, wie diese in ihrem Interesse beeinflußt werden kann.“ 43
Ergebnis dieser Debatte war ein „Offener Brief an die Gemeinden der Kirchenprovinz Sachsen“ 44, der diesmal unbehindert die Adressatinnen erreichte und daher eine entsprechende Öffentlichkeitswirkung entfalten konnte. Mit einer eindeutigen Stellungnahme für Gorbatschows „Wende in den internationalen Angelegenheiten …(als) eine(r) zutiefst revolutionäre(n) Aufgabe“ 45 war der „innerkirchliche Dienstgebrauch“ ein für alle mal verlassen.
Im September 1987 nahm Frieden ’83 am Olof – Palme – Friedensmarsch teil, der auch durch Wittenberg führte. Es war ein großartiges Erlebnis, mit eigenen, lange überlegten und solide gestalteten Transparenten z. B. mit der Aufschrift „Friedenserziehung statt Wehrkundeunterricht“ auf den Straßen einer sozialistischen Kreisstadt zu demonstrieren. 46 Aber das Ergebnis war ambivalent und in der Friedensgruppe durchaus umstritten: „Zu beachten ist, daß es Schorlemmer entgegen seiner konzipierten Absicht nicht gelang, einen einheitlichen Standpunkt der Mitglieder der Gruppierung zur Bewertung des Olof – Palme – Friedensmarsches zu erarbeiten. Diesbezüglich wurde deutlich, daß Schorlemmer … den Olof – Palme – Friedensmarsch als ausbaufähigen Beginn im Sinne einer Politik des ›Neuen Denkens‹ im Verhältnis Staat – Kirche bewerten. Dem wurde besonders durch die Personen … widersprochen, … die Auffassung vertreten, daß von Seiten des Staates keine Fortschritte im Sinne einer Politik des ›Neuen Denkens‹ gemacht wurden und der Olof – Palme – Friedensmarsch als Ausnahme im Zusammenhang mit dem ›Honecker – Besuch‹ in der BRD zu sehen ist.“ 47
Die Ausweitung der Thematik von traditionell friedenspolitischen Themen auf die allgemeine Gesellschaftspolitik und die Bedeutung der praktischen Konsequenzen für die Situation in der DDR erkannte das MfS möglicherweise eher als die Mitglieder von Frieden ’83 selbst. Jedenfalls ist in den eigenen Papieren der Gruppe noch nicht ablesbar, was das MfS am 2. Februar 1988 formuliert:
„Im Ergebnis bisher vorliegender Erkenntnisse zur Gruppierung ›Frieden ’83‹, seiner Organisatoren und Inspiratoren sind folgende feindlich – negative Zielstellungen zu erkennen:
- Schaffung einer legalen Basis, um als eigenständige Gruppierung als gleichberechtigte, aber von der staatlichen Friedenspolitik und –bewegung unabhängige Friedensbewegung anerkannt zu werden
- Festigung der personellen Basis sowie Nutzung legaler Möglichkeiten zur politischen Untergrundtätigkeit, Verbreitung oppositionellen, feindlich – negativen Gedankengutes unter dem Deckmantel der Friedenserhaltung
- Mißbrauch des verfassungsmäßig garantierten Handlungsraumes der Kirche zur weiteren Sammlung und Zusammenführung von feindlich – negativen, oppositionellen und schwankenden Kräften zur Entwicklung und Forcierung von Aktivitäten politischer Untergrundtätigkeit.“ 48
Die „20 Thesen zur gesellschaftlichen Erneuerung“, die die Wittenberger Gruppe 1988 für den Kirchentag in Halle vorlegte, lesen sich dann wie eine Umsetzung der (den AutorInnen natürlich unbekannten) oben zitierten „Konzeption zur politisch – operativen Bearbeitung“ des MfS — nur in umgekehrter Zielrichtung. Mit dem Thema für die Ausgestaltung der Arbeitsgruppe 4 des Kirchentages: „Umkehr führt weiter — wo gesellschaftliche Erneuerung nötig wird“ 49 hatten die an der Vorbereitung beteiligten Mitglieder die Losung der späteren Leipziger Friedensgebete „Für gesellschaftliche Erneuerung“ nicht nur formal vorweggenommen. Auch inhaltlich werden die Themen der 89er Herbstrevolution bereits beschrieben. So ist der Untertitel für die Thesen von Martin Luther (1520) entlehnt: „Die Zeit des Schweigens ist vergangen und die Zeit des Redens ist gekommen“ 50 und der Ausgangspunkt ist eine Fundamentalkritik: „Unser Land gerät in eine viele Lebensbereiche umfassende Krise seiner Entwicklung — mitten in einer Welt, die in eine Krise geraten ist.“ 51. Die individuelle Situation kann sich nur im Zusammenhang mit einer „Umgestaltung gesellschaftlicher Strukturen“ ändern. In den 20 Thesen werden alle wesentlichen und eine Umgestaltung erfordernden Lebensbereiche aufgelistet. Das traditionelle Friedensthema hat sich in die Breite gesellschaftlicher Probleme ausdifferenziert. Die Ausarbeitung endet mit einer Frage, die auch 15 Jahre nach dem Mauerfall noch zur Beantwortung ansteht: „Wir werden erfahren, daß wir durch diese Erneuerung Leben gewinnen. Aber sind wir persönlich bereit, die Schwierigkeiten auf diesem Weg zu tragen?“ 52
Im Juni 1988 war die Zeit noch nicht reif, die Thesen gesamtgesellschaftlich umzusetzen. Während die Kirchentagsgäste vor Ort mit Bedacht ihren individuellen Freiraum vergrößerten und die oppositionellen Gruppen sich auf öffentliche Aktionen (im Sinne der PUT, vgl. oben!) vorbereiteten und ihre Legalisierung anstrebten, schrieb noch am 15. November 1988 ein anonymer Mitarbeiter des MfS in einer umfassenden „Einschätzung“ zu den Thesen (23 Seiten!): „Der Ausgangspunkt — ›unser Land gerät in eine … Krise‹ ist falsch. Was die in eine Krise geratene Welt betrifft, so ist die Forderung danach, ›Schweigen aufzugeben‹, so sie sich an uns wendet, völlig unnötig, weil die Kommunisten diejenigen sind, die ein klares Konzept zur Überwindung dieser Krise haben.“ 53
Oberst Gröger, der in der BV Halle augenscheinlich für die „Bearbeitung“ der Gruppe Frieden ’83 verantwortliche Offizier, lud im April 1989 zehn Majore und Hauptmänner aus der halben Republik nach Halle ein zu einer „Koordinierungsberatung zum feindlich – negativen Personenzusammenschluß ›Frieden ’83‹“. 54 Nachdem man Friedrich Schorlemmer / Wittenberg, Christian Sachse / Torgau, Lothar Tautz / Weißenfels und Axel Noack / Wolfen als Inspiratoren und Organisatoren von Frieden ’83 im Sinne des PUT identifiziert hatte, diagnostizierte man als „möglich neue Zielrichtung der Gruppierung“ die „Fragen des KSZE – Prozesses und der Demokratie und Menschenrechte in der DDR“. 55
Damit schließt sich der Kreis. Mit der Reklamation der allgemeinen Menschenrechte auch für den sozialistischen Staat hatten 1975 die ersten Einzelpersonen und kleinen Gruppen in den Studentengemeinden und der offenen Arbeit begonnen. Mit ihrer Durchsetzung endete die DDR. Die Aufgabe der Umgestaltung der Gesellschaft angesichts der Krise in der Welt allerdings steht noch an.
41: Sachakten Nr. 4388, Blatt 134
42: MfS Zentralarchiv HA XX/AKG, Nr. 5666, Blatt 161 – 164
43: ebenda, Blatt 161
48: Sachakten Nr. 4388, Blatt 2
49: Kirchentagsprogramm, Seite 6
50: Sachakten Nr. 856, MfS BV Halle, Blatt 4
51: ebenda
52: ebenda, Blatt 7
53: Sachakten Nr. 1530, MfS BV Halle, Blatt 5