„Vertrauen wagen“ — Abrüstung schmieden

Das Luther-Jubiläum im Karl–Marx–Jahr 1983

Mit Karl Marx (100. Todestag) und Martin Luther (500. Geburtstag) standen zwei mit sehr unterschiedlichen Traditionen und Assoziationen verbundene Persönlichkeiten der deutschen Geschichte auf der Agenda des Jubiläumsjahres 1983, derer zu gedenken auch in der DDR unvermeidbar war.

Auf kirchlicher Seite war das scheinbar unproblematisch, denn offiziell konnte man sich auf den Reformator beschränken. Nur die sich infolge des KSZE – Prozesses unter dem Dach der Kirche versammelnden Menschenrechts– und Friedensgruppen wagten unzuständiger Weise, sich auch auf Marx zu beziehen, insbesondere auf den „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ 1, wo der Philosoph Erstaunliches über Recht und Freiheit geschrieben hatte — geradezu ein Widerspruch zur SED – Politik.

Auf staatlicher Seite hatte man das Problem, beide Persönlichkeiten angemessen zu bedenken. Selbstverständlich stand dabei Marx als „Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus“ an erster, zweiter und dritter Stelle, dann erst konnte vom ehemaligen „Fürstenknecht“ die Rede sein. Bei Marx war alles klar und folgerichtig rief die SED – Führung, ein „Karl – Marx – Jahr“ aus.

In der kommunistischen Bewertung von Luthers Rolle in der Geschichte war allerdings in den Jahren vor 1983 eine sonderbare Wandlung vor sich gegangen: Im Streben nach Anerkennung der DDR in der westlichen Welt hatten realsozialistische Historiker mit dem Segen des SED Zentralkomitees zuerst die alten Preuße und nun den noch älteren Reformator als Wegbereiter dieses „deutschen Staates [entdeckt], dessen geschichtliche Wurzeln bis in die Anfänge deutscher Geschichte zurückreichen“ 2. Folgerichtig wurde also 1983 zusätzlich zum Jahr der „Martin – Luther – Ehrung der Deutschen Demokratischen Republik“ erklärt und in schöner reformatorischer Tradition wurden zwar nicht 95, aber immerhin 15 Thesen veröffentlicht. Hier interpretierte man knallhart marxistisch, damit die ideologische Richtung schon mal klar war: Der Reformator wurde zum „Wegbereiter der großen geistigen und politischen Auseinandersetzungen [gekürt], mit denen Deutschland und Europa in die Epoche des Verfalls des Feudalismus […] und der ersten bürgerlichen Revolutionen eintraten.“ 3 Vom eigentlichen Motor des Protests, Luthers Frage nach dem gnädigen Gott, war natürlich keine Rede. Ein Disput mit der kirchlichen Seite fand nicht statt und war entsprechend dem Selbstverständnis der SED – Staatsideologen auch gar nicht vorgesehen.

Das kirchliche Lutherkomitee hatte sich hingegen für das Jubeljahr das Leitthema „Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen“ ausgedacht. Ebenso gut hätte die Losung „Alles oder nichts“ lauten können, so unkonkret und apolitisch, wie diese Worte daherkamen. Aber da gab es noch den Kirchentag in der DDR – fünf Landesauschüsse, deren Vertreter sich auch Gedanken über ein angemessenes Luthergedenken machten. Das Ergebnis formulierten sie — kirchenleitungsunabhängig — bereits im Winter 1981/82 mit der Losung „Vertrauen wagen“ und der Willenserklärung, sieben regionale Kirchentage im Lutherjahr zu veranstalten.

1: Leicht zugänglich im Internet: Karl Marx - Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte

2: zitiert nach: Der Spiegel vom 07.3.1983, Prof. Dr. Adolf Laube (Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR), S. 103

3: Einheit — Zeitschrift für Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus, Nr. 36/1981, S. 890ff

Öffentlichkeit für kirchliche Friedensanliegen

Das wurde zunächst weder vom MfS noch von den staatlichen Akteuren in Ost – CDU und SED für bemerkenswert gehalten, doch sie sollten eines Besseren belehrt werden: Sieben Großveranstaltungen nicht nur in Kirchen und auf Friedhöfen, sondern in Kulturhäusern und auf öffentlichen Plätzen. Letzteres wurde von der Staatsführung nur zähneknirschend genehmigt, weil die Kapazitäten der kirchlichen Räume nachweislich nicht ausreichten. Der Staat hatte aber ein grundsätzliches Interesse daran, dass „Ordnung und Sicherheit“ jederzeit gewährleistet waren. Außerdem konnte man hier auch Auflagen inhaltlicher und personeller Art machen, die bei Veranstaltungen in kirchlichen Räumen nicht möglich waren. Dennoch entwickelten die sieben Kirchentage innerhalb eines halben Jahres eine Eigendynamik, die für alle Beteiligten auf je unterschiedliche Weise überraschend war. Dazu trug im Vorfeld die öffentlichkeitswirksame Kirchentagslosung wesentlich bei, verstanden doch Christen wie kirchenferne Menschen die Aufforderung „Vertrauen wagen“ einerseits als Antithese zu der den DDR – Bürgern vom Kindergarten an eingebläuten Leninschen Parole „Vertrauen ist gut — Kontrolle ist besser!“, andererseits als entschiedenen Abrüstungsappell, der die offizielle Propaganda vom „Friedensstaat DDR“ hinterfragte. Auch insofern war die Losung politisch ausgesprochen brisant, als sie genau während der Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche um den Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ formuliert und öffentlich gemacht worden war.

Zwei Ereignisse des Wittenberger Kirchentags im September 1983 illustrieren beispielhaft diese Eigendynamik. Mit der zum Jahresbeginn 1983 einsetzenden spürbaren Erleichterung von dienstlichen und privaten Reisen von Bundesbürgern in die DDR — die DDR brauchte dringend „Devisen“ — kamen auch mehr und mehr Politiker und Kirchenfunktionäre aus der Bundesrepublik in den Osten. Das nutzte eine kleine Gruppe von Kirchentagsakteuren in Wittenberg 4, um ein Präsidiumsmitglied des (West–) Deutschen Evangelischen Kirchentages (DEKT) in die Lutherstadt einzuladen, sich dort aktiv an der Ausgestaltung des Christenfestes zu beteiligen. Die Wahl fiel auf Richard von Weizsäcker, der 1979 bis 1981 Präsident des DEKT gewesen und damals Regierender Bürgermeister von West – Berlin war. Die Rechnung ging auf: Die DDR – Behörden kamen ob der deutsch – deutschen Gemeingelage nicht umhin, die Einladung des CDU Spitzenpolitikers zu akzeptieren und als dieser im Sommer 1983 für das höchste Amt der Bundesrepublik Deutschland vorgeschlagen wurde, wagten sie nicht, dessen Einreise abzulehnen.

4: Dazu gehörten Propst Hans Treu, Friedrich Schorlemmer und Lothar Tautz.

„Wir atmen die gleiche Luft.“

Die Publikumsresonanz auf den Kirchentag war hervorragend, die lange geplanten Veranstaltungsangebote reichten nicht aus, und es mussten kurzfristig Zusatzprogramme aus dem Boden gestampft werden. Eines davon war das erweiterte Vorprogramm der Abschlussveranstaltung, in das — unangemeldet und unabgestimmt mit den staatlichen Stellen — ein besonderes Grußwort eingeplant wurde. So versammelten sich am Kirchentagssonntag bei schönstem Sonnenschein 10.000 Menschen auf dem Wittenberger Marktplatz. Was nun geschah, hätten viele der Anwesenden Tage zuvor noch für unmöglich gehalten: Gleich zu Beginn trat das bekannte Kirchentagspräsidiumsmitglied Richard von Weizsäcker aus dem „Feindstaat BRD“ ans Mikrophon und verkündete zur Eröffnung der Hauptveranstaltung eines mitteldeutschen Provinzkirchentages: „Wir sind hüben wie drüben Deutsche, wenn auch in zwei Staaten. Uns verbindet mehr als Sprache, Kultur und die Hoffnung für unsere Gesellschaft. […] Wir atmen die gleiche Luft, sie macht nicht an unseren Grenzen halt. Sie rein zuhalten ist unser gemeinsames Interesse.“ 5 Der designierte Bundespräsident sprach es und jeder verstand, was damit gemeint war. Den anwesenden offiziellen und inoffiziellen Staatsvertretern mag es den Atem verschlagen haben.

Richard von Weizsäcker in Wittenberg
Richard von Weizsäcker redet am 25. September 1983 auf dem Wittenberger Marktplatz
Quelle: Privatarchiv Lothar Tautz

War dieser Auftritt der Höhepunkt des Wittenberger Kirchentages, so wurde die erste öffentliche Aktion der gerade frisch gegründeten kirchlichen Friedensgruppe „Frieden ’83“ 6 um Friedrich Schorlemmer zu einem weiteren Paukenschlag für die kirchliche Friedensbewegung in der DDR. Gelang es ihr doch — transportiert von ARD und ZDF — ihr Anliegen „Schwerter zu Pflugscharen“ ganz plastisch bis in die Wohnzimmer der ostdeutschen Bevölkerung zu tragen.

Solche Aktionen gelingen nicht spontan, sondern haben einen personellen, inhaltlichen und organisatorischen Vorlauf, der in Hinsicht auf die Friedens– und Menschenrechtsthematik vor allem in den Studentengemeinden seinen Ort hatte. So konstatierte bereits am 25. Mai 1977 der Leiter der Abteilung XX der MfS Bezirksverwaltung (BV) Halle, Oberstleutnant Joachim Gröger, in einer „Information über die Existenz und das Wirken der Evangelischen Studentengemeinden (ESG) im Bezirk Halle“, dass „eine Reihe von Studenten / Jugendlichen, die bisher eine gute gesellschaftliche Arbeit leisteten und Mitglied gesellschaftlicher Organisationen waren, die aber durch intensive Einflussnahme der negativen Kräfte innerhalb der ESG und der Jungen Gemeinde aus den Organisationen austraten, sich den christlichen Glauben zuwendeten, getauft wurden, den Wehrdienst mit der Waffe in der Hand aus Glaubensgründen verweigerten und jetzt aktiv in der ESG bzw. in kirchlichen Einrichtungen tätig sind.“ 7 Gröger führt ganz richtig fort: „Das Wirken der ESG zeigt sich auch in den Sympathiebekundungen für den ehemaligen Pfarrer [Oskar] Brüsewitz, den Liedermacher [Wolf] Biermann, den Schriftsteller [Reiner] Kunze sowie in den negativen Diskussionen über Entscheidungen und Beschlüsse von Partei und Regierung durch Studenten im Sicherungsbereich der BV Halle.“ 8 Er kommt zu dem Schluss, dass die „Einleitung von offensiven Maßnahmen zur Isolierung, Zersetzung und Zurückdrängung des ideologischen Einflusses der Tätigkeit der ESG an den Hochschulen und Universitäten“ unbedingt in Angriff genommen werden müsse. 9

5: Zitiert nach der vom MfS für Honecker zusammengestellten „Information über den Verlauf des Kirchentags […] in Wittenberg“, BStU, MfS, BV Halle, AKG 2016, Blatt 3

6: siehe auch: Die Bedeutung der kirchlichen Friedensbewegung in der DDR

7: BStU Sachakte Nr. 853, Ast. Halle, Blatt 1, 7 – 8

8: ebenda, Blatt 8

9: ebenda, Blatt 13

Inhaltliche und organisatorische Vorgeschichte

Gelungen ist ihm da nicht viel, obwohl die Zielpersonen frühzeitig identifiziert waren. In Grögers Bericht war der Merseburger Studentenpfarrer Friedrich Schorlemmer namentlich benannt worden, über den er nicht zu Unrecht mitteilte, er würde sich und die Studenten darauf orientieren, „sich intensiv mit der sozialistischen Umwelt zu befassen, den Marxismus / Leninismus zu analysieren und sich mit der Umwelt kritisch auseinanderzusetzen.“ 10 Nach Einführung des Wehrkundeunterrichts 1978 war allerdings der politische Schwerpunkt dieser Sparte kirchlicher Arbeit ganz klar die Friedensbewegung. Die forcierte Aufrüstung der Warschauer Pakt Staaten und der Nato – Doppelbeschluss von 1979 taten dann ein Übriges für die Motivation der Mitglieder zahlreicher Studentengemeinden, so dass der Naumburger ESG – Friedenskreis im Herbst 1980 einen offenen Brief zum Thema „Erziehung zum Frieden“ entwarf, den sich am 13. Januar 1981 die Vollversammlung der Studentenschaft der Kirchlichen Hochschule in Naumburg zueigen machte. 11

Es gab zwar viel Gegendruck von Seiten der Dozentenschaft und der Kirchenleitung, die Studenten ahnten aber nicht, dass es die Stasi selbst war, die da drückte. So formulierte das MfS in einer „Information ‚Offener Brief‘“ vom 30. Januar 1981: „Insgesamt kann eingeschätzt werden, dass die eingeleiteten operativen Maßnahmen nicht als vom MfS ausgehend erkannt wurden und einen politisch – operativ nützlichen Differenzierungsprozeß einleiteten.“ 12 Die jungen Leute hatten mit der „Herstellung und Verbreitung dieses Pamphlets […] [den] Tatbestand des § 106 Abs. 1, Ziffer 1 und 4 StGB erfüllt.“ 13

Die ärgerlichen Erfahrungen mit der Hochschul– und Kirchenleitung zeigten den Akteuren, dass sie sich zum Zwecke von „staatsfeindlichen“ Friedensinitiativen anders organisieren mussten, um effektiv arbeiten zu können: Überregional und möglichst unabhängig von der kirchlichen Administration. Da war Friedrich Schorlemmer in Wittenberg gerade der Richtige, um die neuen Möglichkeiten selbstbestimmten Handelns im Lutherjahr auszuloten. 1978 war er von der Kirchenleitung als Dozent in das dortige Predigerseminar berufen worden. Für die Vorbereitungsgruppe des Wittenberger Kirchentages war er einer der wichtigsten Gesprächspartner bei Überlegungen, wie man Veranstaltungen so planen konnte, dass politische Tabu – Themen zur Sprache kommen und von allen verstanden werden, ohne dass die Akteure ihre Inhaftierung befürchten mussten. Der engste Kreis der Vorbereitungsgruppe war sich lange einig: Mit der ersten Friedensdekade der Kirchen im Jahr 1980 war mit „Schwerter zu Pflugscharen“ das Thema genannt, das auch auf dem Wittenberger Kirchentag in den Mittelpunkt rücken sollte.

10: ebenda, Blatt 4

11: BStU HA XX, MfS, Blatt 142f

12: ebenda

13: Aus der strafrechtlichen Einschätzung zum OV „Seminarist“, vom 15. Januar 1981, BStU, MfS HA XX 350, Blatt 61; Der § 106 StGB drohte für „staatsfeindliche Hetze“ mehrere Jahre Haft an

Initiative „Frieden ‘83“

Zuvor waren am 5. Januar 1983 in Halle dreißig Vertreter von Friedensgruppen aus der ganzen DDR zur Gründung der überregionalen Initiative „Frieden ‘83“ zusammengekommen. 14 Sie wollten in die Kirche und in die Gesellschaft hinein wirken — als eine Gruppe, die sich verbindlich mit allen persönlichen Konsequenzen gegen jede weitere Aufrüstung einsetzt, gegen die Militarisierung des Denkens und des öffentlichen Lebens. Am 18. Mai 1983 wurde nach einem längeren Diskussionsprozess eine Basiserklärung mit dem programmatischen Titel „Die Gefahr erkennen — den Glauben bekennen — den Frieden leben“ verabschiedet 15 und im Juni 1983 eine Eingabe — zusammen mit einer großen Unterschriftenaktion — an die Bundessynode der DDR – Kirchen gerichtet.

Die Wittenberger Fraktion hatte sich zum Kirchentag etwas Besonderes ausgedacht. Ihre Mitglieder wollten eingedenk ihrer oben angeführten Basiserklärung über den Frieden nicht nur reden, sondern auch entsprechend handeln — und wenn es nur eine symbolische Handlung wäre. Eine solche hat im Christentum schon seit alttestamentlichen Zeiten eine durchaus gute Tradition. Da es sich um eine neue Gruppe von ausgesuchten Leuten handelte, gab es die begründete Hoffnung, spitzelfrei arbeiten zu können. So erfuhr die Stasi tatsächlich erst kurz vor der Umsetzung der Aktion am Abend des Kirchentagssamstags durch einen etwas verwirrten Anruf von einer IM „Gitte“: „Im Predigerseminar (Innenhof) sollen in wenigen Minuten Biermann Texte verlesen werden und anschließend‚ eine Sache mit Kerzen‘ steigen.“ 16

Es waren zwar Texte von Schorlemmer und die Kerzen entwickelten sich ganz schnell zu einem ausgewachsenen Schmiedefeuer, aber so konnte MfS – Leutnant Hahn wenigstens über die „Demonstrativhandlung“ berichten: „Dann wurde das Schwert zu einer Pflugschar geschmiedet. Die Hammerschläge wurden mit rhythmischen Beifall begleitet.“ 17 Die gesamte Aktion wurde von einem Fernsehteam des ZDF gefilmt und war noch am Abend und am Folgetag in den Nachrichtensendungen von den erstaunten Ost– und Westzuschauern zu besichtigen.

14: vgl.: Worte öffnen Fäuste. Die Rückkehr in ein schwieriges Vaterland, Friedrich Schorlemmer, München 1992, S. 182

15: Deutsches Historisches Museum Berlin Inv. Nr. Do2 2005/370, beim DHM, online

16: BStU Sachakte Nr. 390, Ast. Halle, Blatt 128

17: ebenda, Blatt 134

Schwerter zu Pflugscharen

Damals erlebte ich als Kirchentagssekretär dieses Ereignis so:

Das Tor des Augusteums war weit geöffnet, aus dem Hof schien tatsächlich ein flackerndes Licht, aber gleichzeitig war Gesang zu hören. […] Vom Lutherhof hörte ich richtige Hammerschläge, da war Stefan Nau, der Schmied, am Werke: Tatsächlich brannte dort ein Schmiedefeuer, in dem das Eisen erhitzt wurde, bevor ihm der Schmied mit kräftigen Schlägen eine neue Form gab. „Schwerter zu Pflugscharen“ in echt, das war es, was sich unsere kleine Friedensgruppe ausgedacht hatte, nachdem der entsprechende Aufnäher auch in Wittenberg verboten worden war. Warum sollten wir nicht ernst nehmen, was schon in der Bibel vom Propheten Micha vorausgesagt und von der siegreichen Sowjetunion der UNO in New York als Denkmal geschenkt worden war? Augenscheinlich gab es unter uns keinen Spitzel, jetzt wurde mir auch bewusst, dass die Stasi wohl den ganzen Tag auf der falschen Fährte war: Sie hatte damit zu tun, die Unterschriftensammlung für die inhaftierte Katrin Eigenfeld von der Hallenser Frauenfriedensgruppe zu unterbinden. Keiner bekam mit, dass inzwischen mitten im Lutherhof eine Freiluftschmiede aufgebaut wurde und fragte nach, was das denn solle. Nun, als das Feuer heiß war und Stefan das (zuvor selber hergestellte) Schwert zu einer Pflugschar umschmiedete, war es zu spät. Für den Frieden waren wir ja alle, einfach verbieten im Angesicht der ökumenischen und Presseöffentlichkeit ging nicht, da blieb nur die Brandschutzordnung. Draußen sangen die Menschen inbrünstig den etwas holprigen Text der arg kurzfristig verfassten Schmiedeliturgie […].
Stefan Nau schmiedet ein Schwert zur Pflugschar
Der Wittenberger Schmied Stefan Nau in Aktion
Quelle: epd-Bild / Bernd Bohm
Eine wunderbare Stimmung von Harmonie und Zuversicht kam mir von den Sängern und Sängerinnen entgegen, so dass ich mich nun hinein begab in die Menschenmenge um — der Schmied hatte das friedensstiftende Ergebnis seiner Arbeit gerade unter begeisterten Beifall präsentiert — Stefan zuzuflüstern, dass er nun aus „Sicherheitsgründen“ das Feuer löschen müsste.
Zur selben Zeit fand nur wenige Meter entfernt im Predigerseminar der Empfang des Kirchentags statt, zu dem auch die Staatsvertreter eingeladen waren. Friedrich Schorlemmer erzählte mir ein paar Tage später, dass Pöhner, der als Stalinist gefürchtete Stellvertreter für Inneres vom Rat des Bezirkes Halle, geflucht hätte: „Während sie uns im Luthersaal als Ehrengäste empfangen, beginnen sie im Lutherhof die Konterrevolution.“ Wo er recht hat, hat er recht. Nur das „Konter“ kann er steckenlassen. 18

Die Wittenberger Gruppe „Frieden ’83“ hatte so eine Vorgabe gemacht, die bis zum Ende der DDR weiterwirkte. In den Jahren dazwischen wurden Jubiläen und Gedenktage immer wieder für besondere Initiativen genutzt, die vielleicht nicht so öffentlichkeitswirksam waren, aber in der DDR durchaus wahrgenommen wurden. Am 26. April 1986, dem Tag des Reaktorunglück von Tschernobyl, fand das „Frieden ’83“ – Treffen in Weißenfels statt. Hier wurden zum ersten Mal ausführlich die Konsequenzen der beginnenden Perestroika diskutiert und auch ein offener Brief wurde verfasst, der als „Weißenfelser Brief“ in der mitteldeutschen Provinz eine erfreuliche Verbreitung fand. „Frieden ’83“ blieb aktiv. Im Herbst 1987 nahm die Gruppe am Olof – Palme “ Friedensmarsch teil, der auch durch Wittenberg führte. Zwei Weißenfelser Frauen trugen dabei das Transparent „Friedenserziehung statt Wehrkundeunterricht“ durch die Straßen der Lutherstadt. Zum Hallenser Kirchentag 1988 waren die Wittenberger, Weißenfelser und Torgauer Aktiven für das Forum „Umkehr führt weiter — wo gesellschaftliche Erneuerung nötig wird“ verantwortlich. Hier lässt sich eine Linie zum Leipziger Friedensgebet „für gesellschaftliche Erneuerung“ erkennen.

Foto des Demozug
Olof - Palme - Friedensmarsch: Eröffnungskundgebung in Stralsund am 1. September 1987.
Foto: Johannes Beleites

Im April 1989 befahl Oberst Gröger zehn Majore und Hauptmänner aus der halben Republik nach Halle zu einer „Koordinierungsberatung zum feindlichnegativen Personenzusammenschluß ‚Frieden ‘83‘“. 19 Nachdem die MfS Genossen die evangelischen Pfarrer „[Friedrich] Schorlemmer/Wittenberg, [Christian] Sachse/Torgau, [Lothar] Tautz/Weißenfels und [Axel] Noack/Wolfen“ als Hauptbösewichte identifiziert hatten 20, diagnostizierten sie als „mögliche neue Zielrichtung der Gruppierung“ die „Fragen des KSZE — Prozesses und der Demokratie und Menschenrechte in der DDR“. 21 Das war ein inhaltlich zutreffend zusammengefasster Ausblick auf die Ereignisse im Herbst desselben Jahres. Im Vergleich zur Nutzung von „Jubel – Daten“ für die Benennung von Tabu – Themen unter den Bedingungen des Unrechtsstaates blieb das tabuisierte Gedenken als solches im Handeln regimekritisch engagierter Christen weniger öffentlichkeitswirksam. Es geschah aber im Stillen, wie das Gedenken an den Tod des Pfarrers Oskar Brüsewitz.

18: Zitiert nach: Don’t Worry, Be Happy!, Kleiner Pionier – was nun?, Annette Hildebrandt & Lothar Tautz, Halle 2000, S. 106f

19: BStU Sachakte Nr. 1570, Ast. Halle, Abt. XX, Blatt 22 – 25

20: ebenda, Blatt 23

21: ebenda, Blatt 24

Ausblick

Heute würde man sich mit der Kirchentagslosung von 1983 zumindest lächerlich machen. „Vertrauen wagen“ gilt nicht mehr, bange machen hingegen sehr. Die Gesellschaft ist von Angst geprägt und das nicht erst seit den 11. September 2001. Als vermeintliches Mittel gegen Terrorismus werden die Kontrollmechanismen ausgebaut, Video– und Telefonüberwachung haben Konjunktur. „Vertrauensbildende Maßnahmen“, die vielleicht in der Zeit des Kalten Krieges die Welt vor einem Atomschlag gerettet und im Revolutionsherbst die gewalttätige Konfrontation zwischen Staatsmacht und Demonstranten weithin verhindert haben, sind kaum noch gefragt. Auch der Krieg als Mittel der Politik wurde wieder salonfähig. Genau das zu thematisieren könnte helfen, in Deutschland wieder eine Atmosphäre des Vertrauens, der Toleranz und der Zuversicht zu schaffen. Es ist auch heute noch die Aufgabe bürgerbewegter Menschen, existentielle Themen zu benennen und wichtige Zeichen zu setzen. Zum 20. Jahrestag der Vereinigung beider deutscher Staaten sollten sie das in Ost und West gemeinsam tun.